Der Krieg tobt in Europa. Und ein Tabu im Denken der westeuropäischen Gesellschaften wurde gebrochen, denn man sah sich lange erhaben über die archaische Form der Konfliktbearbeitung. Mithin verschlossen viele lange die Augen vor einer sich abzeichnenden Katastrophe. Dabei war dies nicht der erste Krieg: mehrere blutige Krisen auf dem Balkan zeigten, welche fatale Wirkung von dem Drang des Menschen ausgeht, anderen seine Ansichten mit Waffengewalt aufzuzwingen. Dieses disruptive Verhalten sorgt aktuell für eine Vielzahl an politischen und diplomatischen Aktivitäten. So trafen sich die Außenminister der NATO-Mitgliedstaaten am 07.04.2022 in Brüssel und einigten sich bündniseinheitlich auf die Möglichkeit, auch schwere Waffen und Großgerät an die Ukraine zu liefern. Weitere Treffen für Absprachen innerhalb des Bündnisses sind geplant.

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Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist das vorläufige Fanal einer Orchestrierung von Ereignissen, die erschreckend dem Verhalten des nationalsozialistischen Deutschlands in den 1930er Jahren entsprechen. Die Ukraine steht einem mächtigen Feind gegenüber, der offenbar auf die Vernichtung der Nation und ihres Volkes abzielt.
Nachdem die ersten Angriffe der russischen Truppen abgewiesen werden konnten, und Kiew nicht mehr unmittelbar bedroht ist, scheint sich der Schwerpunkt der Kämpfe zu verlagern. Die ukrainischen Streitkräfte, Milizen und internationale Freiwillige konnten in den waldreichen Regionen des Nordens mit infanteristischen Waffen und Kampfmitteln erfolgreich agieren und den russischen Truppen offenbar erhebliche Verluste beibringen.
In den offenen Ebenen und den Hügelgeländen der pontischen Steppe im Süden des Landes sind jedoch eher andere Ausrüstung und andere Kampfweisen gefragt. Dort wird sich die Reichweite und Beweglichkeit von gepanzerten, mechanisierten und luftgestützten Verbänden anders entfalten können als in den Wäldern und Sümpfen des Nordens. Die Ukraine strebt deshalb folgerichtig eine Anpassung ihrer Ausrüstung und des Großgeräts an und hat entsprechende Anfragen und Forderungen an die Staaten Europas gestellt.
Dazu gehört auch die Lieferung von 100 Schützenpanzern des Typs Marder aus Deutschland, über die eine Delegation mit Vladimir Klitschko am 1. April mit Bundeskanzler Scholz sprach. Die Idee klingt verlockend und schnell umsetzbar: die Schützenpanzer sollen aus Beständen der Bundeswehr geliefert werden. die wiederum kauft anschließend bei der Industrie bereits ausrangierte, dann zu modernisierende Bestände zurück.
Das Überlassen solchen Großgerätes wäre nicht nur ein qualitativer Sprung in Deutschlands Engagement für die Ukraine, sondern würde auch einige Implikationen für Deutschland und die Bündnisverteidigung mit sich bringen: Orientiert man sich an einem deutschen Panzergrenadierbataillon, in dem drei Kampfkompanien (mit je 14 Schützenpanzern) sowie Einsatzunterstützungs- und Versorgungseinheiten vorhanden sind, könnte man mit 100 Mardern zwei Bataillone mit je 44 Mardern und dazu Reserve für Ausbildung, Instandsetzung und erwartbaren Verlust/Ausfall durch Kampfhandlungen ausstatten. Dafür müssten allerdings in Deutschland kurz- und wahrscheinlich sogar mittelfristig drei Bataillone auf ihr Großgerät verzichten, da die neuen/alten Marder bei der Industrie vor einem möglichen Einsatz generalüberholt und modernisiert werden müssten. Das könnte bis zu einem Jahr dauern.
Von einer schnellen Ergänzung aus einsatzbereiten Beständen kann also keine Rede sein. Eine solche „Material-Rotation“ würden die Kapazitäten der betreffenden Brigade(n) etwa für die bestehenden oder in aufzustellenden eFP-NATO-Verbände in Litauen, Polen, Rumänien oder der Slowakei deutlich schmälern. Die betreffenden Bataillone könnten zudem nicht oder eingeschränkt an ihrem Kernwaffensystem in Übung gehalten werden, Simulation oder kurzzeitige Leihen von anderen Verbänden können wohl kaum fehlendes Großgerät kompensieren.
Diese Lücke könnte allerdings durch beschleunigte Zuführung des modernen Schützenpanzers Puma verringert werden, so dies kostengünstig umsetzbar ist. Rheinmetall hat pro Marder einen Stückpreis von 940.000 € veranschlagt. Zuzüglich etwaiger Kosten für die Generalüberholung wäre eine Gesamtsumme von deutlich jenseits der 100 Mio € realistisch.
Sollte Deutschland die geforderten Schützenpanzer an die Ukraine liefern, wäre die kurzfristige Wirkung der Waffen dennoch fraglich: Das Gerät müsste nicht nur durch die Bundeswehr bereitgestellt und in die Ukraine transportiert werden. Dort – oder vielleicht auch schon in Deutschland – müsste Personal geschult, ausgebildet und beübt werden, um überhaupt einen realistischen Einsatzwert im bevorstehenden Kampf zu erzielen. Die Gefahr eines Totalausfalls schlecht ausgebildeter Truppen sollte nicht unterschätzt werden.
Zusätzlich müssen in der ukrainischen Armee Kapazitäten für Instandsetzung und Wartung geschaffen oder umgeschult werden, sowie die Versorgung mit Betriebsstoffen und Munition der verbauten Waffen (BMK 20mm und MG 7,62mm) sichergestellt werden. Letzteres dürfte ein geringeres Problem darstellen. Allerdings müssten selbst erfahrene Panzergrenadiere Erlerntes auf dem neuen Fahrzeug und mit den damit verbundenen technischen Daten und Rahmenbedingungen anpassen und übertragen. Das System Panzergrenadier Marder ist bisher nicht in den ukrainischen Streitkräften abgebildet. BMP und BTR sind zwar in mechanisierten Verbänden vorgesehen, haben allerdings beispielsweise andere Absitzstärken und andere Möglichkeiten des aufgesessenen Kampfes als der Marder.
All dies würde mindestens zwei bis drei Monate dauern, ehe die Verbände in den ukrainischen Streitkräften einsatzbereit wären, um in verschiedenen Operationsarten zu bestehen. Das wäre keinesfalls rechtzeitig zum Ende der Schlammperiode Rasputiza und der damit zu erwartenden neuen Aktivität russischer mechanisierter Kräfte, denen die ukrainischen Truppen dann wahrscheinlich begegnen müssen.
Das Schaffen oder Neuausrüsten von ukrainischen Panzergrenadierverbänden kann also nicht für die kurzfristig anstehenden Kämpfe gedacht sein. Sondern sie sind mittelfristig angelegt, um selbst Operationen beweglicher Kriegsführung durchführen zu können. Die ukrainische Seite könnte mit einem solchen Instrument die Initiative dieses Konfliktes zumindest zeitweise gewinnen, um ihre Vorstellungen etwa für spätere Friedensverhandlungen voranzutreiben.
Dabei könnte die dauerhafte Kontrolle der Küstenregion am Schwarzen Meer und am Asowschen Meer eine Rolle spielen, um einerseits den russischen Kräften die Landbrücke zwischen der Krim und den Separatistengebieten zu verwehren und andererseits die Häfen für die Ukraine offen zu halten. Mögliche weitere Ziele der ukrainischen Führung könnten die (Rück-)Eroberung der Regionen Donezk und Lugansk oder gar der Krim sein, was die Verhandlungsposition enorm verbessern würde.
Wie realistisch diese Optionen sind, bleibt abzuwarten. Sollte der Deal zustande kommen, wäre dies, zusammen mit weiteren Wunschlieferungen an Großgerät (es sind Kampfpanzer und Artilleriesysteme im Gespräch) - ein wirkungsvoller Beitrag, die ukrainischen Landstreitkräfte wieder zu beweglichen und durchschlagskräftigen Operationen zu befähigen – mit allen Implikationen.
Die Bundesregierung wird zur Zeit ob ihres Zögerns kritisiert, weil sie nicht sofort die geforderte Lieferung von 100 Marder in die Wege leitet. Aus oben genannten Gründen kann es dazu aus deutscher Sicht keine schnelle Antwort geben, da die Implikationen weitreichend sind und Abstimmung im Bündnis erfordern. Gleiches gilt für Verteidigungsministerin Lamprecht, deren Prüfung ergab, dass alle bundeswehrintern verfügbaren Marder fest verplant sind. die Regierung muss strategisch abwägen, ob Deutschland das gewünschte Material auf Kosten eigener Handlungsfähigkeit und verbunden mit erheblichen Kosten liefern will/kann.
Dabei wird die Kompensation einer möglichen Lücke verfügbarer Truppenteile der Bundeswehr für NATO-Aufgaben durch andere Staaten des Bündnisses ebenso eine Rolle spielen wie die finanzielle Ausgestaltung eines Überlassungs- und Nachkaufprozesses. Es wäre wünschenswert, dass dafür nicht direkt das neu zu schaffende Sondervermögen Bundeswehr herhalten muss, da die Bundeswehr bereits hinreichend Investitionsbedarf in eigenen Projekten hat.
Aus unserer Sicht ist jetzt folgendes notwendig:
Die Auswirkungen für die Bundeswehr und die NATO müssen öffentlich gemacht und intern, sowie mit den Verbündeten abgestimmt werden. Parallel dazu kann die Bundesregierung dem BmVg bereits jetzt beauftragen, die betroffenen Verbände und das in Frage kommende Gerät festzulegen, um bei einer positiven Lieferentscheidung sofort handlungsfähig zu sein. Dazu müssen ferner der Transport der Schützenpanzer und die Ausbildung von Kraftfahrern, Bordschützen und Kommandanten, sowie der zugehörigen Infanteriegruppen vorbereitet werden. Dies kann durch Personal der betroffenen Bundeswehrverbände und ggf. der Panzertruppenschule erfolgen.
Gleichzeitig sollte dieser Prozess in der Öffentlichkeit begleitet werden, damit die Bedeutung und die Nebenbedingungen einer solchen materiellen Überlassung nicht unterschätzt werden und Forderungen nach Schnellschüssen vorgegriffen wird.
Nach einem ersten Deal wird im fortlaufenden Krieg sehr wahrscheinlich der Bedarf entstehen, weitere Schützenpanzer Marder in die designierten ukrainischen Verbände zu liefern. Je länger der Krieg dauert, desto wahrscheinlicher sind Ausfälle und Verluste, die nicht im Land zu beheben oder zu ersetzen sind. Die Bundesregierung sollte deshalb einen Rahmen-Prozess zwischen der ukrainischen Regierung und der deutschen Rüstungsindustrie moderieren, um in Zukunft schneller agieren zu können und gleichzeitig Kontrolle ausüben zu können.
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