Die Duma der Russischen Föderation erörtert seit dem 09.06.2022 einen Gesetzesentwurf, der die Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik Litauen aus dem Jahr 1991 durch den Staatsrat der damaligen Sozialistischen Republik Russlands als nicht rechtmäßig und somit ungültig erklären soll. Gleichzeitig findet in der Ostsee eine Übung der russischen Baltischen Flotte statt, für die umfangreiche zusätzliche Kräfte aus anderen Verbänden der Russischen Marine zusammengezogen wurden.
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Neben Korvetten, Schnellbooten und Marinefliegern, wurden Fregatten, Schiffe und Flugzeuge zur U-Boot-Abwehr sowie Kampfhubschrauber zusammengezogen, um neben Konfrontation bzw. Abwehr von gegnerischen Über- und Unterwassereinheiten auch die Durchführung einer kombinierten Landungsoperation zu üben. Bereits zuvor startete die lange geplante Übung von Marinestreitkräften der NATO BaltOps 2022, was den russischen Übenden wie auch höheren Kommandoebenen die Möglichkeit bot, die eigene Übung an die Vorhaben und Bewegungen der NATO anzupassen bzw. Erfahrungen für eine potentielle reale Konfrontation abzuleiten.
Damit scheint die russische Führung den baltischen NATO-Staaten, sowie den beitrittswilligen Staaten Schweden und Finnland aufzeigen zu wollen, dass russischen Kräfte vor Ort durchaus handlungsfähig sind und der Westen sich nicht in Sicherheit wiegen darf, solange der Angriffskrieg in der Ukraine nicht abgeschlossen ist. Die geringe strategische Tiefe des Baltikums sowie die überschaubare Größe der relevanten Inseln in der Ostsee machen für Russland schnelle, aber räumlich begrenzte Operationen mit zeitlichem und räumlichen Schwerpunkt attraktiv. Sie würden dem russischen Militär zusätzliche operative und strategische Tiefe für einen möglichen längeren Krieg gegen die NATO-Staaten bieten.
Diese Elemente scheinen allzu perfekt zusammen zu passen, berücksichtigt man das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine, die Rolle der Waffenlieferungen der baltischen Staaten an die ukrainischen Streitkräfte und die geostrategische wie auch historische Bedeutung dieser Staaten für die russische Führung. Wladimir Putin hat sich unlängst auf dem Kongress junger Forscher und Ingenieure mit Zar Peter I. gleichgesetzt, welcher im Großen Nordischen Krieg gegen Schweden und Polen 1721 erfolgreich beenden beendete und mit der Region des heutigen St.Petersburg, Estland und Finnland als Pufferzonen den Zugang Russland zum Baltischen Meer und zum Westen errang. Vorangegangen waren fast 20 Jahre Krieg im Osten und Norden Europas. Der heutige starke Mann im Kreml schwört die Menschen seines Herrschaftsbereiches auf einen ähnlichen bedeutsamen Krieg und auf die damit verbunden Opfer ein - für die Größe Russlands und seines Reiches ist kein Opfer zu groß, um Territorien “heimzuholen”, wie Putin sagt.
Es stellt sich also die Frage, wie dringlich Wladimir Putin diesem historischen Vergleich Taten folgen lassen will/kann/muss. Mit dem möglichen Beitritts Schweden und Finnlands zur NATO wird aus Sicht der Russen historische Anspruch Russlands in der Ostsee empfindlich beeinträchtigt, damit auch der Großmachtanspruch, Territorien zurückzuholen und zu stärken, die einst gewaltsam dem sowjetischen Machtbereich hinzugefügt wurden und später ihre Unabhängigkeit erkämpften, wie etwa die Baltischen Staaten.Deshalb ist davon auszugehen, dass die Ambitionen der Russischen Führung sich nicht auf einige Gebiete am Rande der Ukraine beschränken (lassen), sondern ein historisch hergeleiteter, weit größerer Geltungs-, Gestaltungs- und Herrschaftsanspruch besteht.
Aus unserer Sicht ist daher mit Blick auf eine potentielle Aggression Russland im Ostseeraum folgendes zu unternehmen:
Die potentiellen NATO-Beitrittsländer sollten nicht nur von den USA, sondern auch und insbesondere von Deutschland vorab eine formale Beistandsgarantie erhalten. Der Prozess bis zur Vollmitgliedschaft und die Ratifizierung durch alle bisherigen Mitgliedstaaten sollte beschleunigt werden.
Die Kooperationen, welche von Schweden und Finnland bereits mit der NATO gepflegt wird, sollten weiter vertieft werden und zu einem gemeinsamen Korps-Kommando für den skandinavischen Raum ausgebaut werden. Dadurch würde nicht nur die Sicherheit der skandinavischen Länder, sondern auch die Nordflanke der NATO gegen die russische Nordmeerflotte gefestigt werden.
Analog dazu sollte ein Korps-Äquivalent für den Baltischen und Polnischen Raum eingerichtet werden, um auch dort die Anlaufzeiten für gemeinsame Operationen kurz zu halten und möglichen Aggressionen schnellstmöglich begegnen zu können.
Die Sicherheitsarchitektur im Ostsee-Raum muss verstärkt werden, indem zumindest eine teilweise Stationierung vor Ort neben zusätzlichen avisierten Verstärkungstruppen in Polen, Deutschland und den Niederlanden erfolgt, um die Durchhaltefähigkeit der Kräfte im Baltikum zu verbessern und der im Angriffsfall notwendigen Zuführung weiterer Kräfte realistische Zeitfenster zu verschaffen. Dabei sollten militärische Strategische und operative Überlegungen Vorrang haben gegenüber einem möglichen Festhalten an der NATO-Russland-Grundakte von 1997, die seit dem 24. Februar ohnehin Makulatur ist.
Darüber hinaus darf die südliche Flanke der NATO in Rumänien/Bulgarien, welche schon jetzt durch die russische Schwarzmeerflotte direkt erreichbar wäre, und auch der Kaukasus-Raum nicht vergessen werden. Es gilt eine kohärente Strategie gemeinsamer Sicherheit ohne blinde Flecken zu schaffen.
Neben handfesten militärischen Kapazitäten sollte in den angesprochenen Räumen und in Verbindung dazu in allen Bündnisstaaten eine gemeinsame abgestufte Cyber-Sicherheits-Architektur und eine gemeinsame Informations-Strategie entwickelt werden, um Einflussnahme und (Desinformation durch Drittstaaten begegnen zu können. Zugleich sollte auch eine offensivere Informations- und Meinungspolitik in Richtung Partnerländer und (potentiellen) Kontrahenten ins Auge gefasst werden. Im Informationsraum wird bereits jetzt ein Kampf um Informations- und Deutungshoheit geführt. Dieser Herausforderung kann am ehesten gemeinsam entgegen getreten werden.
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