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  • AutorenbildJan Hesselbarth

Abreißen - Neubauen

Aktualisiert: 9. Aug. 2023

Es ist 23:00 Uhr. Ich sitze gerade an meinem Esstisch und ringe um Worte für all das, was wir in unserer Firma in den letzten Tagen erlebt, gesehen, besprochen, gehört und gedacht haben. Über die Zeitenwende, die wir erleben, und unseren Blick auf die Konsequenzen. Ich möchte meine Gedanken und unsere Sichtweisen hierzu einmal darstellen.


Nie wieder Krieg

Dieses einfache Statement kennen wir aus den letzten 30 Jahren. Es ist das Mantra unserer Nachkriegsgeschichte bis zur Wende 1989 und dem Zerfall der Sowjetunion und darüber hinaus. Die letzten 30 Jahre haben wir in einem ganz besonderen Frieden gelebt, von Freunden umgeben. Mit diesen Freunden haben wir global agiert und sogar unseren Planeten an den Rand des klimatechnischen Zusammenbruchs gewirtschaftet. Das Ende des Kalten Krieges und die damit einhergehende Friedensdividende führte zur militärischen und gesellschaftlichen Abrüstung. Wir wurden eine durch und durch pazifistische Bevölkerung. 2001 kam der erste Bündnisfall - Krieg gegen den Terror. 2004 bin ich Soldat geworden. Seitdem hat sich die Welt fundamental verändert. Im letzten Jahr bin ich aus der Bundeswehr ausgeschieden und seitdem Reservist.


Am 22. Februar 2022 greift Vladimir Putin die Ukraine an. Seitdem glüht mein Kopf, und ich bin unruhig. Es ist passiert, was so viele negiert und so wenige prophezeit haben. Vladimir Putin greift ein europäisches Land an. Und warum? Nun, seine jüngste Rede sagt dazu ganz viel aus: Sie ist eine gefährliche Mischung aus Geschichtsklitterung, Revanchismus und Imperialismus. Putin sieht sich in der Tradition großer Imperatoren, von Katharina der Großen bis Josef Stalin. Russland soll wieder zu alter Größe aufwachsen, und der ehemalige Kiever Rus soll wieder heim ins Reich. Putin will Fakten schaffen, und in seiner bemerkenswerten Fernsehansprache hat er mit seiner geschichtsrevisionistischen Sicht im Grunde alle düsteren Befürchtungen des Westens bestätigt. Er wolle die Ukraine von Nazis befreien und entwaffnen. Die Ukraine sei ein Teil Russlands. Die NATO-Osterweiterung - sonst ein gern genommenes Argument - führt er bemerkenswerterweise in keinem Satz an. Vielmehr kommt seine Angst vor Freiheit und Demokratie zum Ausdruck. Zur selben Zeit marschieren seine Soldaten in die Ukraine ein.


Putins Rede auf Youtube, bereitgestellt von Welt

Militärisch hat Putin die Ukraine und ihren Widerstandswillen anscheinend massiv unterschätzt. Anders erklärt sich nicht, warum er z.B. entgegen seiner eigentlichen Militärdokrin handelnd angegriffen hat. Der Angriff war fast schon zaghaft. Die artilleristische Vorbereitung der Ukraine (z.B. durch Zerschlagen der Luftkampf-, Artillerie-, Drohnen und Führungsfähigkeit durch weitreichende Präzisionswaffen), der Kampf der Verbundenen Waffen war nicht sichtbar. Der Einsatz der Artillerie zwar vorhanden - aber nicht in dem Maße, wie man es hätte erwarten können. Erste Berichte legen den Schluß nahe, dass den russischen Streitkräften durch das Unterschätzen der Ukraine und ihrer Kampfkraft schlicht nicht ausreichend Munition zur Verfügung steht. Auch das übrige Material, welches zum Einsatz kam, muss meines Erachtens nach genauer betrachtet werden. So stellt sich mit die Frage, warum Putin mit wirklich alten T-72 Versionen in den Angriff geht und z.B. nicht seine neuesten Panzer vom Typ T-14 Armata schickt.


Auch auf dem Parkett der Flugabwehr konnte Russland bisher noch keine wirkliche Luftüberlegenheit herstellen. Nicht zuletzt auf Twitter wird besonders dieser Aspekt vertieft diskutiert. Immer wieder wird von ukrainischen Jägern und Bombern aber auch Drohnen berichtet. Hier liegen übrigens auch wesentliche Fähigkeitslücken der Bundeswehr. Eine weitere dieser Fähigkeitslücken zeigt sich augenscheinlich in der Führung der Truppen. So berichten immer mehr OSINT-Quellen von Festnahmen russischer Soldaten in der Ukraine. In den ersten Befragungen, die teilweise öffentlichkeitswirksam in den sozialen Medien geteilt werden, entsteht der Eindruck, als würden die jungen Wehrpflichtigen gar nicht genau wissen, warum sie denn nun in der Ukraine in einem echten Krieg seien. Ihnen wurde anscheinend vermittelt, dass sie in einer Übung in Belarus eingesetzt wären. Auch die schiere Menge von Wehrpflichtigen erstaunt.


Hinzu kommt eine anscheinend desaströse Versorgungslage der Truppen in den Angriffsspitzen. Es gibt vermehrt Berichte über Engpässe bei Kraftstoff, Verpflegung und Munition. Auch hier zeigt sich eine massive Fehleinschätzung und / oder eine logistische Fehlleistung der russischen Armee. Nunmehr scheint Putin sogar auf die tschetschenischen Söldner Kadyrows und sogar seine Wagner-Söldner zurückzugreifen. Diese sind für ihre besondere Gewalt und Skrupellosigkeit bekannt. Zusammengefasst erscheint der militärische Ansatz Putins im ersten Wurf recht unstrukturiert und in Teilen zaghaft auszufallen. Dabei hat er bisher nur ca. ⅓ seiner zusammengezogenen Kampfkraft eingesetzt. Was ab jetzt folgen wird aus meiner Sicht ist die 2. und dann die 3. Welle - durchaus auch mit einem robusteren Vorgehen. Zumindest legen das erste Informationen nahe.


Auf der ukrainischen Seite kämpft mittlerweile nicht mehr nur die Armee, sondern die ganze Bevölkerung. Seit Beginn der Invasion ist Präsident Selenskyi im Land und in Kiew, als echter Führer einer Nation in Bedrängnis. Besonnen und nahbar wird er dargestellt, und ansprechbar - auch für Russland. Seine Bevölkerung, die er zu den Waffen gerufen hat, folgt seinem Ruf. Überall in der Ukraine sammeln sich kampfwillige Menschen, lassen sich ausrüsten und ausbilden, basteln Molotow-Cocktails und unterstützen bei der Versorgung der Truppen. Ein Volk unter Waffen, dass sich gegen die Invasion, gegen die Unterdrückung, gegen Russland stemmt. Und mit jedem Tag, den die Ukraine unter Führung ihres Präsidenten kämpft, wird dieser Kampf mehr und mehr für die Ukraine und die Freiheit entschieden. Die derzeit pausierten Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine werden an seinem Bild auch nichts ändern. Dort fordert die Ukraine den Rückzug Russlands - und Selenskyi unterzeichnet parallel den Antrag auf Aufnahme in die EU...


Bei all dem muss man besonders im Informationsraum vorsichtig sein. Im Moment ist in den offen zugänglichen Quellen nämlich die Masse der Ersteller auf der ukrainischen Seite. Den russischen Soldaten wurde schlicht verboten, ihre Handys zu nutzen. Dies führt natürlich zu einer krassen Übermacht an ukrainisch geprägten Informationen.


Abreißen

Und ich? Ich denke dabei an Freiheit. An die Gründe, warum ich - wie so viele andere - einmal Soldat geworden bin. Ich denke an meine Grundausbildung zurück und an all die Sprüche, die man uns erzählt hat. Ich denke an meinen Großvater und seine Erzählungen aus dem Krieg. An seine Erlebnisse, die er mit mir teilte. Ich denke daran, wie zaghaft und vorsichtig unsere Politik war, was mich wütend und bestürzt machte. Als Reaktion darauf wurden in den letzten Tagen seit Angriffsbeginn immer wieder Waffenlieferungen und harte Sanktionen von der deutschen Regierung gefordert. Dabei war Olaf Scholz als Kanzler lange still und hat an den überkommenen Grundsätzen deutscher Sicherheitspolitik - vor allem dem sozialdemokratischen Teil - nicht gerüttelt.


Regierungserklärung Olaf Scholz von www.bundestag.de


Mit seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 - die fraglos mit diesem Krieg in die Geschichte eingehen wird - hat er nun diese Grundsätze abgeräumt. Deutschland vollzieht eine 180-Grad-Wende der Sicherheitspolitik. Waffenlieferungen an die Ukraine (ein Land im Krieg), 100 Mrd. Euro Sondervermögen für die Beschaffungen der Bundeswehr außerhalb der Schuldenbremse, das Einnehmen und Einhalten des 2% Ziels, zwei LNG-Terminals und der forcierte Ausbau erneuerbarer Energien - das ist nichts weniger als eine wirkliche Zeitenwende. Und das alles innerhalb von 72 Stunden - in einer Rot-Gelb-Grünen Regierung. Das alles im Jahr 2022. Seitdem brummt mein Kopf noch mehr - ebenso wie alle Köpfe in unserem Team.


Neubauen!

Was heißt das für uns? Es muss jetzt alles dafür getan werden, dass die Bundeswehr ihrem Auftrag innerhalb des Bündnisses und für unser Land gerecht werden kann. Dass eine - notwendige - ist die Vollausrüstung, die hoffentlich mit dem Sondervermögen von 100 Mrd. € angepackt wird. Das andere ist - und das muss aus unserer Sicht ganz genau so angepackt werden - ein Umschwenken in den Köpfen. Kultur, Auftrag, Strukturen und Beschaffung müssen jetzt beherzt angepackt werden. Von Menschen, die Sicherheitspolitik und Militär leben und nicht nur irgendwann mal gesehen haben. Bisherige politische Bildung und interne Weiterbildungen sind aus unserer Sicht zu kurz gegriffen und wirkungslos geworden. Es braucht auch hier eine Zeitenwende.


Aus unserer Sicht müssen jetzt kurzfristig folgende Gesichtspunkte bei der Aus- und Weiterbildung geschafft werden:

  1. Resilienz - Entlang der 7 baseline requirements der NATO müssen Strukturen und Personal der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben befähigt werden, im hybriden Spektrum zu agieren und zu bestehen.

  2. Auftragstaktik - Der Entscheidungsfindungsprozess der Bundeswehr ist das agilste und wirkungsvollste Element des Handelns in der Hand der Streitkräfte. Das Führen mit Auftrag und die Auftragstaktik müssen wieder Schwerpunkt der Aus- und Weiterbildung sein.

  3. Führungskultur - Aus unserer Erfahrung der letzten 5 Jahre wissen wir, dass Anspruch und Wirklichkeit militärischer Führungskultur zuweilen auseinandergehen. Hier muss eine gemeinsame Führungskultur wiederbelebt werden, die freiheitlich-demokratischen Grundsätzen entspricht und den Auftrag klar im Zentrum des Handelns sieht.

  4. Soldatisches Selbstverständnis - Alle Soldat:innen müssen darauf eingestellt sein, dass die Bundeswehr vor Herausforderungen gestellt wird, die noch größer sind als jetzt bereits. Hierzu braucht es operationalisierte Leitbilder, klare Linien und Resonanzräume auf allen Ebenen.

  5. Landes- und Bündnisverteidigung - Das Zentrum all dessen muss eine konsequente Ausrichtung auf die Landes- und Bündnisverteidigung sein. Dabei ist auch immer ein Comprehensive Approach zu betrachten, der zivile Spieler mit einbezieht. Hier gilt es auf Großverbandsebene und aufwärts Wahrnehmungen zu schaffen. Wir sind nicht mehr in Afghanistan, sondern agieren künftig innerhalb Europas, in enger Abstimmung mit funktionierenden zivilen Strukturen.


Was jetzt aus unserer Sicht passieren wird:

  • Wir bereiten derzeit eine Einsatzlandspezifische Ausbildung für die Slowakei und Rumänien vor, die wir überall in Europa mit Mobile Advisory Teams durchführen können und deren Fertigstellung Ende der 11. Kalenderwoche geplant ist.

  • Die bisher vorhandenen Angebote zum Thema eFP LITAUEN sind bereits angepasst.

  • Der Gesamtkomplex Kulturwandel in den Streitkräften wird derzeit von unserem Team einem kritischen Blick unterworfen - der Abschluss aller Maßnahmen ist für die 14. Kalenderwoche geplant.

  • Zu den oben genannten Gesichtspunkten haben wir bereits in der Vergangenheit etliche Inhalte erarbeitet, die wir nun noch einmal aktualisiert haben.


Heute saßen wir bei einem kommenden eFP-Leitverband und haben uns über mögliche Ausbildungen im Rahmen der Einsatzvorbereitung unterhalten. Die Stimmung war gut. Dennoch war allen klar, in welchen neuen Dimensionen wir in Zukunft denken müssen.


Wir als Team - ich als Person - wir sind dankbar in Deutschland zu leben. In Europa. Und vor allem: in Freiheit. Und ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit.


Ihr Jan Hesselbarth

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