top of page
  • AutorenbildJan Hesselbarth

Die Balkanstaaten im Lichte des Krieges in der Ukraine

Aktualisiert: 9. Aug. 2023

Der Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine hat vielerorts für böses Erwachen gesorgt. Neben den Bildern in den Medien oder bei Besuchen einzelner Repräsentanten sind es vor allem Flüchtlinge, die sich unmittelbar in den Gesellschaften Europas bemerkbar machen. Das UNHCR geht mittlerweile von etwa 12 Millionen Flüchtlingen aus, die das Land verlassen haben, davon sind etwa 7 Millionen in den Staaten der Europäischen Union registriert worden. Zudem sollen weitere 7 Millionen innerhalb der Ukraine auf der Flucht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen sein. So überquerten etwa 5,8 Millionen Menschen die Grenze nach Polen, davon registrierten sich 1,35 Millionen bei den polnischen Behörden, viele werden bei Bekannten, der Familie oder privaten Obdach-Gebern beherbergt. Andere reisten in weitere Länder weiter, um dort bei staatlichen Stellen oder privat unterzukommen. Ähnliches spielte und spielt sich südlich der Karpaten ab.


Photo by Juli Ricard on unsplash


Das kleine Moldawien, eines der ärmsten Länder Europas, verzeichnete fast 600.000 Grenzübertritte. Etwa die Hälfte davon soll im Land geblieben sein, jedoch nur 90.000 Menschen ließen sich staatlich registrieren. Das würde bedeuten, dass bei 2,6 Millionen Einwohnern 5 Moldawier auf einen Flüchtling kommen - eine extreme Belastung für die Wirtschaftskraft und die logistischen Kapazitäten. Zumal die abtrünnige Provinz Transnistrien, in der bereits russische Truppen stationiert sind, eigene Probleme und vor allem Herausforderungen für die Sicherheit schafft.

Folgerichtig wurden dem Land finanzielle und materielle Unterstützung durch die EU und auf unilateraler Ebene zur Verfügung gestellt, damit die Unterbringung gewährleistet werden kann, ohne zur gesellschaftlichen Überforderung zu werden, oder die Menschen in die EU weiterreisen können.


Besonders Rumänien unterstützt sein Nachbarland, obwohl es selbst seit Kriegsbeginn über 1,1 Millionen Einreisen (1/20 der Bevölkerung) verzeichnete und 90.000 Flüchtlinge in staatlichen Einrichtungen beherbergt. Zwar ist das Land ungleich größer, jedoch liegt es im Ranking der Wirtschaftskraft deutlich im Feld der schwächeren Akteure Europas. Das Land schneidet in Indizes zu Demokratie, Korruption und Staatsstabilität im europäischen Vergleich besonders schwach ab. Es ist medial deutlich unterrepräsentiert, trotz der großen Leistungen in der Versorgung von Flüchtlingen innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen. Rumänien gehört zudem zu den stärksten Unterstützern der Ukraine jenseits von Kampfmitteln. Es wurden hauptsächlich Schutzausrüstung und ABC-Spür-Systeme geliefert.


Das Land hat zudem nach der Besetzung der Schlangeninsel vor der eigenen Küste die Aktivitäten der Marine im Schwarzen Meer und des Küstenschutzes hochgefahren. Erst 2009 hatten sich Rumänien und die Ukraine friedlich über den Besitz der Insel geeinigt und eine weitreichende wirtschaftliche Kooperation vereinbart, die mit gemeinsamen Anstrengungen für Agrarexport aus der Ukraine ihre Fortsetzung findet.


Rumänien sieht im Lichte der Blockade ukrainischer Häfen durch die Russische Schwarzmeerflotte die eigenen Exportrouten gefährdet. Der Abzug der russischen Kräfte von der Insel Ende Juni mag da etwas Entspannung gebracht haben. Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und militärische Belastung bleibt jedoch hoch. Die Rumänen nehmen den russischen geostrategischen Blick auf die militärisch-bedeutsamen Linien der Karpaten und der Donau-Ebene zum Schwarzen Meer ernst. In der Geschichte versuchte das Russische Zarenreich wiederholt einen Vorstoß auf den Balkan in Richtung Bosporus und der Siedlungsgebiete der slawischen Völker - in der Rhetorik des aktuellen Kreml-Chefs tauchen diese Elemente wieder auf. Die Region rückt wegen ihrer Brückenfunktion erneut in den Fokus geostrategischen Denkens, die USA stationierten bereits vor Kriegsausbruch 2000 Soldaten in Rumänien, das Kontingent wurde auf bis zu 5000 Soldaten aufgestockt, was zusammen mit französischen Kräften einem Brigade-Äquivalent an Kampftruppen entspricht. Zusätzlich wurden deutsche und italienische Luftwaffeneinheiten mit Abfangjägern verlegt und die Kapazitäten der Marinebasen werden ausgebaut.


Weniger eindeutig scheint die Situation in Bulgarien zu sein. Am 02.10.2022 wurde innerhalb von eineinhalb Jahren zum vierten Mal gewählt. Das Land gilt als wirtschaftliches Schlusslicht der EU und ist von innerlicher Zerrissenheit ob des zukünftigen Weges geprägt. Zwar hat die konservativ-wirtschaftsliberale und eher populistisch-national agierende “Union der demokratischer Kräfte” mit leichten Zuwächsen (25,3% Endergebnis) gewonnen. Jedoch wird die Regierungsbildung erneut sehr schwer werden. Zweitstärkste Kraft ist nach herben Verlust die sozialdemokratische Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Petkow, die eher pro-europäisch eingestellt ist (PP 22%; -5,5%). Die ”Bewegung für Rechte und Freiheit”, welche auf die türkische Minderheit abzielt, konnte sich mit 13,8% relativ stabil halten. Größter Gewinner der Wahl ist die russlandfreundliche Partei “Wiedergeburt” (10,8%), die ihr Ergebnis mehr als verdoppeln konnte. Sollte sie es in die Regierungskoalition mit den Konservativen schaffen, dürfte es einen Richtungswechsel in der bulgarischen Außenpolitik herbeiführen - besonders in den Felder Europa, sowie Russland. Die niedrige Wahlbeteiligung von 39,4% zeugt von wenig Anteilnahme und Vertrauen der Menschen, dass die neue Regierung die internen Probleme und die wirtschaftlichen Nöte in den Griff bekommt.


Auf den ersten Blick scheint Griechenland relativ stabil und nach den Turbulenzen der Schuldenkrise auch wieder zur Ruhe gekommen. Jedoch streben auch hier politische Extreme auseinander und machen eine Regierung der Mitte immer schwieriger. Linke wie rechte Gruppierungen demonstrieren z.T. gewalttätig gegen Sparmaßnahmen, die den Haushalt konsolidieren sollen. Die Staatsfinanzen, das Steuerwesen und die Sozialpolitik bleiben ein Dauerthema.


Zudem konnte sich China mit dem Hafen von Piräus ein Juwel der kritischen Infrastruktur sichern, was neben Krediten zu einer gewissen Abhängigkeit Griechenlands führt. Die aktuelle konservative Regierung hat neben einer Verschärfung der Wirtschaftssituation, da der Tourismus nach dem Ende der scharfen Maßnahmen noch nicht wieder auf vollen Touren läuft, auch mit außenpolitischen Zündstoff zu kämpfen.


Die Türkei unter Erdogan rasselt lautstark mit den Säbeln, sie erhebt Anspruch auf Inseln in der Ägäis, was die Wirtschaftszonen der beiden Länder erheblich verschieben würde. Die vermuteten Rohstoffvorkommen unter dem Meeresboden spielen hier eine wichtige Rolle, hinzu kommen historische Gegensätze. Ein weiterer Streitpunkt ist das Migrationsregime, mit dem die Türkei immer wieder den griechischen Grenzschutz auf Trapp hält und die Aufnahmekapazitäten des Nachbarlandes strapaziert, was zunehmend für innenpolitische Unruhe sorgt. Gleichzeitig sind beide Staaten auf Zusammenarbeit in der NATO oder bei der Unterstützung der Agrar-Exporte der Ukraine durch die türkischen Meerengen und die Ägäis angewiesen.


In den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens rumort es erneut entlang ethno-kultureller Linien.


Das Kosovo erlitt durch die Corona-Pandemie erhebliche Einbußen im sich entwickelnden Tourismus. Die anfänglichen Erfolge im Kampf gegen Korruption scheinen dahin. Das kleine Land erscheint wieder weniger realistisch eigenständig überlebensfähig, was nationalistische Fliehkräfte von Albanern einerseits, die einen Beitritt zu Albanien attraktiv empfinden, und ethnischen Serben andererseits, die das Kosovo als historischen Angelpunkt (Amselfeld) wieder mit dem Kernstaat Serbien vereinen wollen. Die Regierung in Belgrad schlägt tatsächlich in dieselbe Kerbe. Präsident Vucic nutzte die Corona-Pandemie zur Regierung per Notstandsverordnung und bedient alte Bilder, welche die natürliche Führerschaft der Serben über die anderen Slawen des Balkans beinhalten. Serbien ist das Land mit der höchsten Investitionsrate chinesischer Unternehmen in Europa. 2007 wurde etwa ein Viertel des BIP von chinesischen Firmen bewegt. Ein Großteil der neu geschaffenen Infrastruktur wurde durch Kredite aus China ermöglicht und von chinesischen Firmen abgearbeitet. Serbien gilt als Schlüsselstaat der Balkanachse des Projektes Neue Seidenstraße.


Serbien hat außerdem die alte Verbindung zum Kreml wiederentdeckt, was sich ebenfalls in enormen Investitionen russischer Energieunternehmen niederschlug. Serbien verfolgt auch in der Sanktionspolitik Europas gegen Russland seit 2014 eine sehr differenzierte Linie, was die wirtschaftlichen Verbindungen eher noch gestärkt hat. Gleichzeitig nutzte Belgrad die ethnischen Serben in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien, um dessen Regierungen zu fordern und die innere Stabilität zu untergraben. Eine Angliederung serbisch bewohnter Territorien wird in nationalistischen Kreisen wieder offen thematisiert.


Ähnlich Russland-freundlich verhält sich der Präsident Ungarns. Viktor Orban schaffte es, dass die Sanktionen im Energiesektor erst mit deutlicher Verzögerung verabschiedet werden konnten und zudem auch eine beträchtliche Karenzzeit von sechs Monaten bei der Umsetzung implementiert wurde. Er blockierte lange das Erdöl-Embargo der EU gegen Russland. In der endgültigen Fassung betrifft das Embargo nur russische Lieferungen per Schiff, die Ausnahme für die Druschba-Pipeline, über die Ungarn 100% seines Erdöls aus Russland bezieht, ist allerdings nur zeitweilig. Der Plan der EU-Kommission, die Mitgliedstaaten bei der Diversifizierung ihrer Energieträger-Importe zu unterstützen, beinhaltet eben auch eigene Investitionen der Mitgliedstaaten, was eine Verteuerung der Energieproduktion bedeutet. Dieser Teuerung will Orban offenbar so lange wie möglich entgehen. Er bedient sich einer in harsche Worte verpackten Schaukelpolitik zwischen Russland und der EU, um das kostengünstigste Ergebnis zu erzielen.


Der Krieg in der Ukraine führte zu etwa 1,3 Millionen Flüchtlingen, die nach Ungarn einreisten. Davon wurden jedoch nur 30.000 bei staatlichen Stellen registriert, ein Großteil reiste in andere europäische Staaten wie Italien oder Österreich weiter. Zugleich tauchten in nationalistischen Kreisen Ideen zu einem Wiedererwerb der Karpatho-Ukraine auf, die Ungarn im Vertrag von Trianon 1919 an die Tschechoslowakei verlor und nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetrepublik Ukraine zugeschlagen worden war. Dieser Plan wird allerdings nicht von offizieller Stelle bestätigt oder gar verfolgt.


Ganz anders geht die Slowakei mit der aktuellen Krisensituation um. Die Erinnerungen an den Prager Frühling 1968, der von sowjetischen Panzern erstickt worden war, sind auch nach dem Ende der Tschechoslowakei in diesem Land nicht vergessen. Die Slowakei unterstützte die Ukraine sehr früh mit militärischem Gerät aus Sowjetzeiten. Gegen Sicherheiten des Luftraumschutzes durch NATO-Partner und zugesagte Beschaffung westlicher Modelle wurden MiG-29 geliefert. Für die aus Deutschland und den Niederlanden an die Ukraine gelieferten Panzerhaubitzen soll im Osten des Landes ein Wartungs- und Reparaturzentrum entstehen. Das slowakische Militär interessierte sich bereits vor dem Krieg für die Panzerhaubitze 2000. Die bisher noch genutzten russischen Modelle von Schützenpanzern sollen im Ringtausch gegen Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A4 ausgetauscht werden. Das kleine Land an den nördlichen Karpaten hat mit etwa 730.000 Flüchtlingen verhältnismäßig viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen - etwa ein Achtel der Vorkriegsbevölkerung. Mindestens 90.000 davon werden in offiziellen staatlichen Einrichtungen versorgt.


Zwei Dinge werden besonders deutlich: die Wahrnehmung des Krieges und der Bedrohung durch ein ausgreifendes Russland sind sehr unterschiedlich. Gleiches gilt für den Umgang mit Flüchtlingen, der sich teilweise drastisch vom bisherigen Umgang mit Migranten aus anderen Regionen unterscheidet. Die Staaten Südosteuropas verfolgen ihre eigenen nationalen Interessen, und sind dabei zu erheblichen Aufwendungen und Opfern bzw. Mitgefühl bereit. Dafür brauchen diese wirtschaftlich relativ schwachen Staaten dringend Unterstützung durch Partnerländer der EU. Die militärische Refokussierung eröffnet einige interessante Möglichkeiten für die Rüstungsindustrie, aber auch für weitreichende militärische und politische Kooperationen.


Forderungen/Folgerungen


  • Die Bundesrepublik sollte neben den Maßnahmen auf europäischer Ebene weitreichende Unterstützung der Gesellschaften bei der Unterbringung und Integration bieten. Geschwächte Gesellschaften bieten Anknüpfungspunkte für fremde Agitation und Instabilität. Dies gilt insbesondere, da der Winter vor der Tür steht.

  • Deutschland sollte die Erfahrungen der Balkanstaaten offen betrachten und für die eigene Migrations- und Flüchtlingspolitik berücksichtigen.

  • Im Rahmen der NATO bedarf es einer reellen explizit europäischen Führungs- und Anlehnungsmacht, sodass kleinere Staaten nicht jenseits des Atlantiks auf Partnersuche gehen müssen. Die Bundesrepublik täte gut daran, sich als Rahmennation für Rüstungs- und Harmonisierung zu positionieren. Eine vertiefende Fortschreibung der Institutionen auf Ebene der EU kann hier nützlich sein, ist allerdings durch Einstimmigkeitsregelung in Sicherheitsfragen schwierig. Deshalb bieten Bi- und multilaterale Initiativen, die harmonisiert werden können, eine veritable Option.

  • Je schneller der Krieg in der Ukraine und die unmittelbare Bedrohung durch Russland enden, desto eher können Menschen in ihre Heimat zurückkehren. Gleichzeitig könnten sich die Nationen des Balkans in Frieden und Sicherheit eher ihren internen Problemen widmen. Deutschland sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, der Ukraine durchsetzungsstarkes militärisches Großgerät jenseits des bisher Gelieferten sowie Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.

  • Als größte Volkswirtschaft Europas und im Sinne eigener wirtschaftlicher und (sicherheits-)politischer Interessen sollte Deutschland den Wiederaufbau der Ukraine tatkräftig unterstützen.

  • Eine europäische Perspektive für die Ukraine muss bereits jetzt formuliert und für die Zeit nach dem Krieg vorgeplant werden. Dafür sollte Deutschland den Prozess auf Ebene der EU aktiv mitgestalten.

  • Unter dem Eindruck der direkten militärischen Bedrohung in Osteuropa darf nicht die Wirkkraft von wirtschaftlichem Einfluss und die Überlebensfähigkeit von Nationalismen unterschätzt bzw. vernachlässigt werden. Deutschland muss selbst und/oder über die Institutionen der EU darauf hinwirken, dass die Länder des Balkans gesehen werden, ihnen auf Augenhöhe begegnet wird und ihnen klare (wirtschaftliche) Perspektiven in einem gemeinsamen Europa aufgezeigt werden.

9 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page