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  • AutorenbildJan Hesselbarth

Die Baltische See - Geostrategische Leitlinien

Mit Finnland und Schweden werden nach der Einigung mit der Türkei nun auch die letzten Ostsee-Anrainer (bis auf Russland) zu NATO-Mitgliedern. Nach der Einigung auf dem Gipfel in Madrid stehen die Zustimmungen der Parlamente aus - ob es im Zuge dieses Prozesses zu erneuten Vorbehaltsäußerungen kommt, bleibt abzuwarten. Ein tatsächlicher Beitritt der beiden bisher neutralen Staaten dürfte der Russischen Föderation und vor allem der derzeitigen Administration unter Putin nicht schmecken. Geostrategisch sahen die russischen Machthaber die Ostsee immer als Binnenmeer. Es wäre fahrlässig, keine Reaktion der russischen Führung zu erwarten, daher gilt es für die alten und neuen Mitgliedstaaten dringende Fragen zu klären.

© Photo by Ан Нет on Unsplash


Wenn große Erdbeben passieren, dann spricht man von der Verschiebung von tektonischen Platten. Es geht also nicht darum, dass da irgendwo mal irgendwie etwas umgekippt ist oder zusammengestürzt. Davon werden Erdbeben nicht verursacht. Nein - es bedarf so umfassenden und großen Massen wie tektonischen Platten, um Erdbeben zu verursachen. An dem Bild sieht man vielleicht, was für hintergründige Dimensionen Erdbeben haben. Nun bin ich kein Experte - das Bild ist aus wissenschaftlicher Sicht mit Sicherheit unterkomplex ausgeprägt und vielleicht so ganz und gar inkorrekt. Dennoch - ich glaube die Masse der mir bekannten Menschen versteht das Bild.


Der Kriegsbeginn in der Ukraine durch Russland am 24.02.2022 war ein solches Erdbeben. Eine solche tektonische Plattenverschiebung in der Sicherheitsarchitektur der Welt. Die Russische Platte schiebt sich langsam aber sicher auf die Europäische Platte. Und wir sind selbst schuld, dass es so weit kommt. Wir haben die Warnzeichen nicht erkannt - die gibt es im übrigen auch bei Erdbeben. Man kann auch Erdbeben durchaus nicht perfekt vorhersagen, aber doch zumindest antizipieren. Man muss nur den wirklichen Experten zuhören. Nun versuchen wir seit Kriegsbeginn diese Plattenverschiebung mit ein paar Steinen aka militärischem Material aufzuhalten - hoffen wir mal, dass dadurch die russische Platte nicht so schnell auf der europäischen landet.

Durch die Bewegung der russischen Platte, bewegt sich auch in Europa einiges. Die Türkei - die einzige skeptische NATO-Nation - einigte sich mit Schweden und Finnland auf Zugeständnisse. Nun ist der Weg frei. Einen Beitritt wird vermutlich nichts mehr verhindern können. Geostrategisch allerdings wird dadurch die baltische See faktisch zu einem NATO-Binnenmeer. Dadurch bekommt die baltische See einen besonderen Status. Denn eigentlich soll die durch die russische Administration gedachte und gewollte geostrategische Nord-West-Grenze Russlands angelehnt an die Skanden westlich Skandinaviens durch die Nordsee verlaufen. So zumindest ist es in den geostrategischen Ideen Russlands sichtbar. Dies sähe die Ostsee zu einem russischen Binnenmeer.


Was bedeutet das aber? Was bedeutet das vor allem für das Baltikum, was nun in einer noch größeren Gefahr schwebt? Das bedeutet vor allem, dass einem Schutz der Ostsee durch militärische Präsenz - also durch die Marine der NATO-Staaten - ein besonderer Status zukommt. Dass küstennahes Seegefecht wieder in den absoluten Fokus der Marine rückt. Das bedeutet aber auch, dass nun umso mehr alles dazu getan werden muss, die Nord-Ost-Front zu stärken. Mit jedem Soldaten und jedem Stück Ausrüstung, welches in Estland, Lettland und Litauen zusätzlich stationiert wird, sinkt die Gefahr, dass Russland doch noch den großen Wurf wagt. Denn - die Strände an der Ostsee sind eigentlich Russisch - zumindest wenn es nach Putins Administration geht.


Schweden und Finnland haben getragen durch solide Bevölkerungsmehrheit entschieden, ihre Sicherheit in Zukunft in der NATO zu gestalten. Beide Staaten waren im Systemkonflikt des kalten Krieges neutral und konnten es auch danach bleiben. Bedingt durch ihre wechselvolle Geschichte haben sie nie den Geist der eigene Sicherheitsverantwortung verloren. Beide Länder bringen handlungsfähige, gut ausgerüstete und ausgebildete Streitkräfte in die NATO ein, die es gewohnt sich, gegen ein klares Feindbild bereit zu stehen.


Finnlands Heer stützt sich mit 16.000 aktiven Soldaten, die in 3 regionale Militärkommandos geführt werden und in 6 Brigaden zuzüglich 1 Garde-Regiment und 1 Spezialkräfte-Regiment gegliedert sind. Angepasst an die Gegebenheiten ihres Landes liegt der Fokus auf infanteristischen Kapazitäten und gemäß der Verteidigungsdoktrin auf Artillerie und Pionierkräften. Das Land hat an einer starken Reserve festgehalten, die etwa 430.000 Reservist:innen umfasst - mit etwa 8% der Bevölkerung eine der höchsten Mobilisierungsraten weltweit. Das Großgerät des Heeres umfasst etwa 200 Kampfpanzer und 1000 gepanzerte Fahrzeuge/Schützpanzer, 84 Panzerhaubitzen, 56 Merfachraketenwerfer und 324 Feldhaubitzen, sowie 265 teils motorisierte Mörser. DIe Luftwaffe verfügt über 160 Flugzeuge, davon 62 Jagdflugzeuge. In der Marine sind 8 Flugkörperschnellboote, 10 Wachboote und 1 Landungsschiff, sowie Minenräumer aber auch Minenleger vorhanden.

Die finnischen Streitkräfte haben besondere Stärken im Kampf in bewaldeten Gebieten, sie sind berühmt berüchtigt für ihre Fähigkeiten im Jagdkampf. Die kleine Kampfgemeinschaften sind im unabhängigen Kampf auch in der Tiefe des Raumes geschult. Der Sisu - der Einzelschütze - ist seit dem Winterkrieg 1939/40 gegen eine 10:1 übermächtige Sowjetarmee legendär. Für Russland wären finnische Kommandoeinsätze gegen die Basen der Nordmeerflotte und die strategische Infrastruktur auf der karelischen Landenge ein Albtraum, dessen Abwehr viel Truppe binden würde, während sich die finnischen Haupttruppen mit Nadelstichen und Hinterhalten den russischen Bodentruppen weitestgehend entziehen würden.


Schweden blickt auf eine lange Historie der Neutralität zurück, aber es war immer eine bewaffnete Neutralität, die sich auch in der eigenen leistungs- und innovationsfähigen Rüstungsindustrie niederschlug. Die schwedischen Streitkräfte umfassen 23.600 aktive Soldaten, 24.000 weitere dienen in der Heimwehr (40 Bataillone). Etwa 11.000 Reservisten und mehr als 5000 Wehrpflichtige jährlich ergänzen den Personalstamm. Das Heeresgroßgerät umfasst 121 Kampfpanzer, etwa 1300 gepanzerte Fahrzeuge und 800 Schützenpanzer. Hinzu kommen 48 Selbstfahrlafette, 124 Mörser (davon 40 selbstfahrend), sowie 11.300 weitere Fahrzeuge. Das Heer ist versiert im beweglichen Gefecht in bewaldeten Gebieten und ist auch unter arktischen Bedingungen uneingeschränkt leistungsfähig. Die Marine verfügt über 5 U-Boote, 7 Korvetten, 9 Minenkampfschiffe, 13 Patrouillenboote, die im Kern den Schutz der langen Küstenlinie sowie der Insel Gotland tragen. Besonderheit sind die schwedischen U-Boote, die speziell für die relativ flache Ostsee konzipiert sind und etwa Nachschubtransporte oder Truppenverlegungen Richtung Kaliningrad unterbrechen könnten bzw. zu deren Sicherung zusätzliche Kräfte erforderlich machen würden. In der schwedischen Luftwaffe sind ca 100 moderne Kampfflugzeuge heimischer Produktion vorhanden, ihre Fliegereinheiten sind sowohl auf den Jagdkampf als auch den Boden-und Seezielkampf ausgelegt. Mit Saab verfügt Schweden über einen besonders hochkarätigen Rüstungsproduzenten, der in einer Liga mit Boeing, Airbus oder Suchoi steht.


Beide Staaten haben ihr Militär bereits seit Jahren in stetiger Kooperation mit der NATO gehalten und sind in Sachen Interoperabilität teils besser als manch langjährige Mitgliedstaaten des Bündnisses. Die Fähigkeiten der Heere genießen großen Respekt über die eigenen Grenzen hinaus. Die Ausbildung der schwedischen Militärakademie wird gern von ausländischen Partnern mit Kadetten bestückt. Tatsächlich würde sich mit dem Beitritt der beiden Länder nicht viel auf der Praxis Ebene ändern. Auf strategischer Ebene bedeutet er allerdings einen signifikanten Zugewinn an direkt verfügbaren Kapazitäten und wahrscheinlich die Etablierung eines neuen bzw. stärkeren Pfeilers des Bündnisses im Norden Europas. Neben Norwegen kommen zwei neue Militärorganisationen hinzu, die den Kampf unter arktischen Bedingungen. Es scheint logisch, diese Fähigkeiten zu bündeln und gegebenenfalls durch weitere Kräfte ähnlicher Fähigkeiten (z.B. deutsche Gebirgsjäger oder britische Highland-Formationen) zu arrondieren. Gleichzeitig sind beide Staaten Anrainer der Baltischen See und ihre Marinestreitkräfte bedeuten einen erheblichen Kräftezuwachs für die Bündnistruppen, die derzeit vor allem im Multinationalen Korps Nordost zusammengefasst sind. Sie bieten für die im Baltikum stationierten bzw. dort zu stationierenden Kräfte eine quasi operative Tiefe und Unterstützungspotential, die bisher nicht vorhanden waren. Eine Zusammenfassung der Luft- und Seestreitkräfte unter einheitlicher Führung mit klarem Schwerpunkt im Baltikum kann ein solider Pfeiler der Sicherheit im Ostseeraum sein.


Für Kontingente der efP in den baltischen Staaten ergibt sich daraus eine erhebliche Stärkung der eigenen Belastbarkeit und Durchhaltefähigkeit. Die von neu hinzugewonnenen Marinestreitkräften verschaffen der NATO in der Ostsee relative strategische Tiefe. Die maritimen Potentiale und die Nutzung der schwedischen Hoheitsgewässer bieten neue Optionen zur Versorgung und Verlegung von Truppen. Zugleich zeigt dieser Mehrgewinn an maritimem Potential durch die Beitritte, wie schwach die Kräfte auch großer Akteure des Bündnisses wie Deutschland oder Polen in der Ostsee bisher waren.

Für die Lage in der Ostsee erscheinen dabei drei Arten des Einsatzes relevant. Einerseits gilt es, eigene Transporte begleitend zu sichern bzw. Regionen oder Korridore für diese dauerhaft feindfrei zu halten. Andererseits müssen die eigenen Küsten, Stützpunkte und besonders die Inseln gegen feindliche Landungsoperationen und Waffenwirkung gesichert, sowie bereits laufende Unternehmen vereitelt werden. Hinzu kommt die Be- oder Verhinderung gegnerischer Transporte und Verlegungen auf dem Seeweg - etwa zwischen Kaliningrad und St.Petersburg oder durch die dänischen Belte in die Weltmeere . Dazu bedarf es für die weiten Teilen relativ seichte Ostsee Schiffe zum küstennahen Einsatz (littorial combat vessels) bzw. U-Boote, die durch geringe Größe, Antrieb, Aufklärungs- und Wirkmittel für diesen besonderen Einsatzraum geeignet sind.


Was nun passieren muss:

  • Konsequenter Ausbau der deutschen Marine-Fähigkeiten (Einsatz in Küstennahen Gewässern, Unterseeboote, Flugabwehrkapazitäten, ASuW etc.) und gleichzeitig eine verstärkte Präsenz in der Ostsee unserer seegehenden Einheiten.

  • Landes- und Bündnisverteidigung bedeutet auch wieder die Ausrichtung unseres KSM auf eben diese Aufgaben. Die Ostsee war einmal Verantwortungsbereich des KSM. Dies muss vor allem wieder deutlicher in die Köpfe der Menschen und die Konzeptionen.

  • Sowohl für das Baltikum als auch für die Ostsee müssen luftgestützte, bodengestützte und seegestützte Aufklärungs- und Wirkmittel zur Luftraumverteidigung und Sicherung eigenen Kräfte und Einrichtungen gegen Luftschläge geplant und asigniert werden, um Reaktionszeiten möglichst kurz zu halten.

  • Schnelle und konsequente Verstärkung der Nord-Ost-Front durch eine leichte Brigade. Es muss Schluss sein mit dem Potemkinschen Dorf der eFP. In einem panzerungünstigen Gelände müssen infanteriestarke Einheiten in Brigadestärke dauerhaft präsent sein. Die NATO-Grundakte und die entsprechenden Zusatzabkommen über Stationierung müssen endlich der durch Russland geschaffenen Realität weichen.

  • Klarheit in Worten und Klarheit in Taten. Wir müssen Dinge benennen, wie sie sind. Russland ist nicht mehr der Freund - das kann es wieder werden - dafür muss aber einiges passieren. Russland ist derzeit als Feind zu klassifizieren. Und damit gibt es keine Nord-Ost-Flanke sondern eine Nord-Ost-Front.


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